Heute vor 25 Jahren: Der Irrwitz von Karlsruhe

Heute ist es auf den Tag genau ein Vierteljahrhundert her, dass der TuS Schutterwald das denkwürdigste Handballspiel seiner 117-jährigen Vereinsgeschichte abgeliefert hat.

In der Saison 1991/92 wurde der deutsche Meister am Ende der in zwei Staffeln geteilten Bundesliga-Saison durch Playoff-Spiele ermittelt. Als Vierter der Südstaffel traf der TuS im Viertelfinale auf den Meister der Nordstaffel, TuSEM Essen. In der »Best of 3«-Serie gewann Schutterwald das erste Spiel in Essen sensationell mit 26:23. Damit war die Bühne bereitet für den Showdown in der Karlsruher Europahalle.

Dorthin hatte der TuS sein Heimspiel verlegt, weil in Offenburg wegen der Frühjahrsmesse alles belegt war. 6500 Zuschauer trauten ihren Augen nicht, als der ersatzgeschwächte TuS, der ohne seine beiden bei der parallel stattfindenden B-WM beschäftigen Asse Roger Kjendalen und Jens Meyer antrat, mit 11:3 in Führung ging.
Wolfgang Winter machte das Spiel seines Lebens und erzielte 16 Tore. Aber dem TuS schwanden in der zweiten Hälfte die Kräfte, Essen glich Sekunden vor Schluss zum 22:22 aus. Es folgten zwei Verlängerungen und ein Siebenmeterschießen, das ebenfalls in die Verlängerung ging. Nach zwei Stunden und 18 Minuten war Schutterwald 34:35 geschlagen.

Das dritte und entscheidende Spiel in Essen gewann der TuSEM mit 23:20. Doch in der Erinnerung ist das eine Randnotiz. Was bleibt, ist dieser 25. März 1992, an dem der Handball-Wahnsinn mit dem TuS Schutterwald Gassi ging.

Zeitzeugen

Wolfgang Winter (52), Geschäftsführer Red Bull Media House, damals 16-facher Torschütze des TuS: Oh ja, ich erinnere mich noch sehr gut! Ich kann sogar sagen, wie dieser schlabbrige Linkshänder von Essen mit dem russischen Namen (Sascha Tutschkin, Anm. die Redaktion) quer über den Platz lief und links tief ins Tor traf. Genau so war das zuvor mit unserem Keeper »Popper« Fries besprochen – aber zehn Sekunden vor Schluss hat’s dann halt eingeschlagen – und es ging in die Verlängerung mit bekanntem Ende.
Es war ein super Spiel mit großen Emotionen. Über alle Verbissenheit des Siegenwollens hinaus verbindet man damit ein Erlebnis, das außerhalb des Sports weiterhelfen kann. In dem Sinn, dass man als Gruppe, die zusammenhält, über hundert Prozent hinausgehen kann.tk

Hans-Martin Ludäscher (72), damals 1. Vor­sit­zender des TuS Schutterwald: Da wir in Offenburg durch die Messe keine Halle hatten und die im Umkreis nicht in Frage kamen, war es naheliegend, nach Karlsruhe zu ziehen, die haben uns damals auch ein sehr gutes Angebot gemacht. Wir haben zunächst von unseren Fans dafür aber auch Prügel bezogen, uns wurde Überheblichkeit und Größenwahn vorgeworfen.
Es war sicher ein Risiko, doch wir hatten Glück. Der sensationelle Sieg im ersten Play-off-Spiel in Essen war der Kick. Ab diesem Zeitpunkt ging die Welle los. Die Leute haben sich um die Karten gerissen. Wir konnten schließlich 23 Busse mit der SWEG organisieren. Unsere Fans haben an jenem Abend in Karlsruhe den Verkehr lahmgelegt. Die letzten kamen kurz vor der Pause in der Halle an. Aus ganz Baden-Württemberg sind die Leute gekommen. Am Ende war die Halle mit 6500 Zuschauern ausverkauft, und wir hatten 120 000 DM in der Kasse.
Und dann dieser dramatische Spielverlauf. So deutlich geführt, und dann kommt Tutschkin und haut noch einen rein. Das war das Unentschieden, und das ganze Drama mit den Verlängerungen und Siebenmeterschießen ging los. Selbst der so ausgebuffte Essener Manager Klaus Schorn war fix und fertig. So was erlebt man nur einmal. Dieser Abend war für mich mein größtes sportliches Highlight überhaupt.miqua

Peter Quarti (49) aus Schutterwald (damals Rechtsaußen von TuSEM Essen): Ich weiß noch, dass Hallensprecher Ralph Bächle früh eine La-Ola-Welle initiierte. Wenn ich ihn in den Jahren danach getroffen habe, habe ich ihn immer gefrotzelt: »Du warst schuld an unserer Aufholjagd.«
Aber eigentlich kann meine Familie viel mehr über das Spiel erzählen. Mein Vater hat noch jede Szene im Kopf. Mein Schwiegervater, der auf Heimreise vom Urlaub war, hat dreimal die Halle verlassen, weil er nach seinem Hund im Auto sehen musste. Und meine Frau weiß noch genau, wie sie in Essen vor dem Radio fast verzweifelte, weil das Spiel nicht enden wollte. Alles in allem hatten wir viel Glück gegen Schutterwald, das war im Halbfinale aufgebraucht. Da flogen wir gegen Leutershausen raus. Wir wurden zwar noch Pokalsieger, aber danach ging’s mit TuSEM leider abwärts.miqua

Manfred Pagel (62), Journalist aus Haslach, damals als Reporter in einem der Fan-Busse nach Karlsruhe: Das Spiel ist mir aus zwei Gründen in besonderer Erinnerung. Da war zum einen die Odyssee über die Dörfer bei der Anfahrt nach Karlsruhe, weil die Autobahn dicht war und unser Bus deshalb ab Bühl auf Nebenstraßen auswich. Wir sind durch Dörfer gefahren, von deren Existenz ich bis dato gar nichts wusste. Gelandet sind wir schließlich in einem Karlsruher Industriegebiet, wo uns ein einheimischer Autofahrer an die Halle lotste. Fünf Minuten vor Anpfiff waren wir da.
Zum anderen bot das Spiel die Gelegenheit, die Übertragung des Textes via Laptop und Telefonmodem aus der Halle direkt ins Offenburger Zeitungssystem zu testen. Turbointernet und E-Mail waren damals noch Zukunftsmusik. Vom Haslacher Redaktionsbüro aus klappten dies hervorragend, in der überfüllten Europahalle allerdings überhaupt nicht. Die Übertragung mit dem Modem, das liebevoll »Knochen« genannt und über einen Telefonhörer gestülpt wurde, brach immer wieder ab. Die Nebengeräusche waren zu laut.
Das Ende vom Lied war die Rückkehr zur bewährten Methode, den Text wie gehabt per Telefon einer freundlichen Dame in der Texterfassung zu diktieren. Da auch das Spiel verloren ging, war der Abend doppelt frustrierend.pag

Manfred Derr (53), der damals den entscheidenden Siebenmeter vergab: Nach der ersten Runde im Siebenmeterschießen war klar: Jetzt entscheidet jeder Wurf. Am Ende hieß es Michael Bohn oder ich. Ich hab’ dann gesagt: Ich mach es. Der Wurf war aber unentschlossen. Das ist leider bestraft worden, weil der Essener Schütze anschließend getroffen hat. Ich hab’ das Bild noch genau vor mir.
Alles in allem war es ein tolles Erlebnis und eines der bedeutendsten Spiele. Der TuS Schutterwald als kleiner Verein hat um die deutsche Meisterschaft gespielt, das muss man sich mal vorstellen. Und Essen wäre zu schlagen gewesen, wir hatten ja schon das erste Spiel auswärts gewonnen. Im dritten Spiel entschied dann die Routine. Wie man es besser machen kann, hat Leutershausen gezeigt, die Essen besiegt haben und am Ende deutscher Vizemeister geworden sind. Das hätten wir auch erreichen können. So was wird einem vor allem mit dem Abstand von ein paar Jahren bewusst.
Überhaupt war das damals eine tolle Bundesliga-Saison. Wir hatten erstmals sechs Spiele im Osten von Deutschland, das war schon was Besonderes. Auch nach Karlsruhe zu gehen, war keine falsche Entscheidung. 6500 Zuschauer sind heute fast normal, für die damalige Zeit war das aber nicht alltäglich.miqua

 

Quelle: MIttelbadische Presse
Autor: Thomas Kastler
Bild: ©Michael Heuberger
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