Herr Heuberger, wie gewinnt Deutschland die Handball-EM?
Die Handball-Europameisterschaft 2020 startet am Donnerstag. Was braucht es, damit die deutsche Nationalmannschaft siegreich aus dem Turnier hervorgeht? Das wollten wir von Ex-Bundestrainer Martin Heuberger (55) aus Schutterwald wissen. Und er hat schon eine Strategie auf Lager.
Am Donnerstag beginnt die Handball-Europameisterschaft 2020 in Norwegen, Schweden und Österreich. Die deutsche Nationalmannschaft bestreitet in Trondheim ihr erstes Spiel gegen die Niederlande (18.15 Uhr/ZDF). Martin Heuberger (55) ist als Junioren-Bundestrainer auch nah dran am A-Team von Bundestrainer Christian Prokop. Im Interview mit der Mittelbadischen Presse erläutert der Schutterwälder Stärken, Schwächen und Chancen einer Mannschaft, die vor allem schwerwiegende Ausfälle verkraften muss.
Wie viel würden Sie darauf wetten, dass die deutsche Mannschaft als WM-Vierter auch das Halbfinale der Handball-EM erreicht?
Martin Heuberger: Ganz ehrlich, das ist schwierig zu sagen. Grundsätzlich hat es die Auslosung gut gemeint. Wir können weit kommen, aber aufgrund der vielen Ausfälle muss alles passen. Ich bin aber kein Wett-Typ, obwohl es bestimmt eine gute Quote auf die deutsche Mannschaft gibt.
Arbeiten wir zuerst das Negative ab: Die beiden Linkshänder Fabian Wiede und Steffen Weinhold fehlen verletzt, Spielmacher Martin Strobel wurde nicht rechtzeitig fit: Wie schwer wiegt das?
Heuberger: Strobel fehlt als Stratege ungemein. Wiede hätte ihn ersetzen können. Er hat tolle individuelle Dinge drauf und es ist besonders bitter, dass er ebenfalls ausfällt. Auch Weinhold ist ein Eckpfeiler, speziell in der Abwehr, aber auch vorne als einer, der Verantwortung übernimmt. Es fehlen also drei wichtige Persönlichkeiten. Aber darin liegt auch eine Riesenchance für andere Spieler. Ich erinnere an die EM 2016, wo Häfner und Kühn als Nachrücker das Halbfinale alleine entschieden haben. Jetzt traue ich so eine Rolle am ehesten Philipp Weber zu.
Experten sagen: Die Abwehr und die Torhüter müssen es richten.
Heuberger: Das sehe ich auch so. Aus einer Betonabwehr mit dem meiner Meinung nach stärksten Torhüter-Gespann dieser EM müssen einfache Tore über den Gegenstoß gelingen. Und dann muss sich der geschwächte Angriff nicht so abmühen.
Der einst unverzichtbare Abwehrchef Finn Lemke ist auch nicht mehr an Bord.
Heuberger: Er hatte mehrere kleine Verletzungen in Melsungen und konnte deshalb zuletzt nicht immer so überzeugen.
Wie sehen Sie die Situation im Tor mit der Reaktivierung des 2007-Weltmeisters Johannes Bitter?
Heuberger: Ich finde diese Nominierung super. Bitter war zuletzt beim TVB Stuttgart konstant gut. Mit 37 Jahren hat er die Ruhe – und die Erfahrung sowieso.
Für den Laien wirkt das Aufgebot von Bundestrainer Christian Prokop auf den ersten Blick wie eine Mannschaft der Namenlosen. Wer sind Timo Kastening, Johannes Golla, Patrick Zieker und Marian Michalczik?
Heuberger: Kastening ist Rechtsaußen, hat die DHB-Nachwuchsschiene durchlaufen und bei Hannover-Burgdorf eine sehr gute Entwicklung genommen. Er ist stark im Gegenstoß. Golla ist ein richtiges Kraftpaket und könnte im Innenblock der ditte Mann sein. Aber er ist jetzt nur auf Abruf dabei. Den Linksaußen Zieker kenne ich von den Junioren, er war ein Riesentalent, danach in Lemgo eher ein Mitläufer, bis er mit seinen 27 Jahren jetzt in seiner Heimat Stuttgart noch mal einen Leistungssprung gemacht hat. Michalczik hat auch alle Junioren-Nationalteams durchlaufen, bei GWD Minden eine sehr gute Entwicklung genommen und wechselt nun im Sommer zu den Füchsen Berlin. Er ist im Rückraum eine gute Variante.
Auf der Linkshänder-Position drückt der Schuh besonders: Kai Häfner ist gesetzt, jetzt fällt auch noch Franz Semper aus …
Heuberger: Semper wäre ja nur die Nummer vier gewesen, jetzt fehlt er auch noch. Dafür hat Prokop mit David Schmidt aus Stuttgart einen Mann ins kalte Wasser geworfen, der noch kein Länderspiel hat. Sein Trumpf ist die Unbekümmertheit.
Wen sehen Sie als Spielmacher?
Heuberger: Das wird Paul Drux sein. Dazu eventuell Fabian Böhme. Trotz der Misere sind noch ein paar Spieler da, die das Heft in die Hand nehmen können.
Jetzt zu den guten Nachrichten: Die Vorrunde mit Spanien, den Niederlanden und Lettland scheint machbar.
Heuberger: Gegen Spanien ist es ein offenes Rennen, die haben ein bisschen den Zenit überschritten. Bei Lettland muss man abwarten und auf den starken Linkshänder aufpassen. Und Holland ist eine aufstrebende Nation mit steigender Qualität, die es zu schlagen gilt.
Und in der Hauptrunde hat das Losglück dafür gesorgt, dass die Schwergewichte Dänemark, Norwegen, Frankreich und Schweden kein Thema sind.
Heuberger: Stimmt. Auf uns warten dann starke Kroaten mit Duvnjak, ansonsten Gegner unserer Kragenweite. Deshalb wäre es enorm wichtig, Spanien zu schlagen und die beiden Punkte in die Hauptrunde mitzunehmen.
Wie finden Sie die EM in drei Ländern – vor allem mit der großen Entfernung zwischen Norwegen, Schweden einerseits und dann Österreich?
Heuberger: Österreich passt nicht ganz dazu. Die Belastung ist sehr groß, auch wenn zusätzliche Reisetage eingebaut wurden. Aber an denen ist keine Regeneration möglich. Und grundsätzlich war die Vorbereitung für unser Team wegen der extremen Belastung durch die Bundesliga im Dezember vergleichsweise kurz. Andere Nationen hatten mehr Trainingseinheiten. Aber das ist ein altes Thema.
Wer sind Ihre Topfavoriten auf den Titel?
Heuberger: Dänemark steht nach wie vor ein bisschen vor allen anderen. Zu rechnen ist aber auch mit Norwegen, speziell wegen des Heimvorteils, und mit den Franzosen, die den Umbruch hinter sich haben.
Das Jahr 2020 bringt noch viel mehr als diese EM. Im April gibt es fürs deutsche Team in Berlin ein Olympia-Qualifikationsturnier.
Heuberger: Ja, die Gegner ergeben sich aus den Platzierungen bei dieser EM, wobei der neue Europameister automatisch qualifiziert ist. Ansonsten schaffen es zwei von vier Teams beim Quali-Turnier, und ich denke, unsere Mannschaft wird das Tokio-Ticket spätestens in Berlin lösen.
Die Vision beim Amtsantritt von DHB-Vizepräsident Bob Hanning lautete dereinst Olympia-Gold 2020 in Tokio. Ist das noch ansatzweise realistisch?
Heuberger: Ja, warum nicht? Vielleicht haben wir bis dahin eine ganz andere Konstellation mit einem gesunden Wiede, einen gesunden Weinhold und einem Strobel, der wieder in Bestform ist.
Quelle: Mittelbadische Presse
Autor: Thomas Kastler
Bild: ©Ulrich Marx
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